GEFMA-Förderpreis 2020
Die Digitalisierung stellt bereits seit einigen Jahren den am stärksten diskutierten gesellschaftlichen Megatrend dar. Dabei verfügt die Digitalisierung über unterschiedliche Definitionsansätze: Von der Umwandlung analoger in digitale Daten, der Automation von Prozessen durch den Einsatz digitaler Technologien bis hin zur Vernetzung digitaler Systeme mit Menschen. Die digitale Transformation kann weitreichende Folgen für die Gesellschaft und Wirtschaft haben, sofern denn ihr Potenzial und Mehrwert erkannt und umgesetzt werden.
Gerade im Facility Management (FM), welches Immobilien über den gesamten Lebenszyklus hinsichtlich nutzerrelevanter Aspekte verwaltet, die Erfüllung der Betreiberpflichten sicherstellt und immense Datenmengen verarbeitet, bietet der Einsatz digitaler Technologien eine Vielzahl von Vorteilen.
So können die interdisziplinären FM-Teams bei der Erfassung und Bearbeitung von Immobiliendaten (wie z.B. durchgeführten Wartungen, anfallenden Störungsmeldungen, Arbeitszeiten, physikalischen Größen usw.), bei der ganzheitlichen Analyse von Risiken (z.B. im Sinne von Anlagenausfällen) sowie der lückenlosen Dokumentation von Prozessschritten durch intelligente Lösungen entlastet werden.1 Diese führen darüber hinaus nicht nur zur Ressourcenoptimierung, Effizienz- und Transparenzsteigerung, sondern auch zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit des FM in Notfallsituationen.
Einschätzung des Reifegrads
Aus der beschriebenen Problemstellung entstand die Idee ein Reifegradmodell zu entwickeln, welches dazu genutzt werden soll den Status quo einer Organisation, sei es für öffentliche oder privatwirtschaftliche Organisationen, hinsichtlich der Digitalisierung ihrer FM-Prozesse zu ermitteln. Durch die Einordnung lassen sich im weiteren Beratungsprozess Optimierungspotenziale und konkrete Handlungsmaßnahmen zur Verbesserung der digitalen Reife identifizieren. Dabei soll die Einschätzung des Reifegrads durch einen FM-Berater erfolgen, um ein möglichst objektives Ergebnis zu generieren. Bestehende Reifegradmodelle der Literatur und Praxis wurden zur Ableitung von strukturellen Anforderungen verwendet. Die Ausarbeitung der Modellinhalte basiert jedoch auf diversen theoretischen Ansätzen.
FM-Prozesse mit Potenzial
Das entwickelte Modell besteht aus insgesamt sieben Dimensionen, welche die aus der Betreiberverantwortung resultierenden FM-Prozesse mit den größten Digitalisierungspotenzial fokussieren. Diese wurden aus der Analyse der GEFMA 914 und der Durchführung eines Literaturreviews zur Identifikation von Kriterien für die Bewertung der Digitalisierungsfähigkeit gewonnen und hinsichtlich ihrer Relevanz für die Erfüllung der Betreiberverantwortung gewichtet. Je höher die prozentuale Gewichtung des FM-Prozesses ist, desto größer ist auch dessen Einflussnahme auf die Sicherheit der Immobiliennutzer und desto kritischer ist dieser für den Immobilienbetrieb. Hierbei sind die folgenden anzuführen:
1. Dokumentation & Reporting (10 %)
2. Stellenbesetzung (15 %)
3. Bedienung und Überwachung von Anlagen und Einrichtungen (20 %)
4. Inspektion, Wartung und Prüfung von Anlagen und Einrichtungen (20 %)
5. Störungsmanagement (20 %)
6. Unterhaltsreinigung (10 %)
7. Objektbuchhaltung (5 %)
Die dargestellten Prozesse werden teilweise häufig durchgeführt, benötigen hohe zeitliche Ressourcen und weisen in der Abfolge ihrer Tätigkeiten wenige Ausnahmen auf. Weiterhin können in den meisten Fällen Entscheidungen in Wenn-Dann-Bedingungen überführt und auf eine direkte Kommunikation zwischen den Prozessbeteiligten verzichtet werden. Ein wesentliches Argument für diese Prozesse ist auch die Möglichkeit zur digitalen Datenerfassung, -speicherung, -bearbeitung und -auswertung. Selbstverständlich gibt es darüber hinaus noch weitere FM-Prozesse mit einem entsprechenden Digitalisierungspotenzial.
Da es sich bei dem Modell jedoch um einen ersten Ansatz zur Verknüpfung
der Themengebiete „Digitalisierung“, „Betreiberverantwortung“ und „FM-Prozesse“ handelt, wurde der Fokus auf die aufgeführten Prozesse mit dem größten digitalen Potenzial gelegt.
Kriterien zur Bewertung
Für jede Dimension wurden mehrere Indikatoren definiert, anhand denen die Digitalisierung der FM-Prozesse genauer beurteilt werden kann. Diese ergeben sich aus der Prozessabfolge, den Definitionsansätzen und Kriterien zur Bewertung der Digitalisierung sowie aus den verschiedenen digitalen Technologien und ihrem Einfluss auf den jeweiligen FM-Prozess. So wurde jeder FM-Prozess bzw. jede Dimension bezüglich des jeweiligen Ablaufs dahingehend geprüft, an welchen Prozessschritten der jeweilige Definitionsansatz und das Kriterium zur Digitalisierung umgesetzt werden. Diese Prozessschritte wurden dem entsprechenden Ansatz und Kriterium zugeteilt und hierzu ein Indikator bzw. eine Frage formuliert. Anhand der Frage wird geprüft, inwieweit der Ansatz und das Kriterium innerhalb der Organisation umgesetzt werden.
Diese Vorgehensweise wurden für alle Dimensionen des Modells umgesetzt und dadurch insgesamt 44 Indikatoren festgelegt.
Für jeden Indikator wurden jeweils fünf konkrete Ausprägungen definiert, die eindeutige Aussagen zur Erfüllung der Indikatoren liefern und so eine konkrete Zuordnung der Organisation ermöglichen. Diese wurden außerdem zur Festlegung der Reifegradstufen verwendet, indem die definierten Abstufungen, Abhängigkeiten und zentralen Aspekte der Ausprägungen zusammengefasst wurden. So bilden beispielsweise die ersten Ausprägungen aller Indikatoren der Dimension D1 auch die erste Reifegradstufe des Modells (siehe Abbildung 3 auf der folgenden Seite).
Bei der Steigerung der Ausprägungen und Reifegradstufen gilt, je digitaler die Daten sind, je automatisierter Prozessschritte verlaufen und je vernetzter die Systeme miteinander und/oder mit Personen agieren, desto höher ist die digitale Reife und die dadurch generierte Verbesserung von Informations-, Kommunikationsflüssen wie auch der Arbeitsentlastung von Beschäftigten. Aus dieser Einschätzung resultieren folgende Merkmale der fünf möglichen Stufen des Reifegradmodells wie in Abbildung 4 (Seite 22) dargestellt.
Die definierten Reifegradstufen können sowohl für einzelne Dimensionen als auch übergreifend für alle Dimensionen angewendet werden, da die Ausprägungen, die sich in den Stufen wiederfinden, auf denselben Grundlagen basieren und daher über dieselben Merkmale verfügen. Durch diesen Zusammenhang muss eine Organisation auch alle Merkmale einer Reifegradstufe erfüllen, um die nächste Stufe zu erreichen.
Mittels des Reifegradmodells kann außerdem eine kontinuierliche Überprüfung der digitalen Umsetzung und Zielerreichung der Organisation erfolgen. Dies bedeutet, dass für jede Handlungsmaßnahme oder -empfehlung der Einfluss auf den Entwicklungspfad und auf die digitale Transformation einer Organisation aufgezeigt werden kann. Es ist jedoch nicht in allen Fällen oder für alle Organisationen sinnvoll, die höchste Reifegradstufe des Modells zu erreichen. Die Entscheidung über den angestrebten Reifegrad ist von vielen verschiedenen Faktoren, wie bspw. der Relevanz des Kerngeschäftes, dem verfügbaren Budget, der Größe oder auch der Personalstruktur eines Unternehmens oder einer Verwaltung abhängig. So individuell kann auch die Gewichtung der Dimensionen vorgenommen werden.
Ergebnisse und Handlungs-
maßnahmen
Die Ergebnisse der Modellentwicklung wurden weiterhin in einem digitalen Bewertungstool operationalisiert, welches über differenzierte Eingabemasken eine möglichst übersichtliche und strukturierte Reifegradbestimmung ermöglicht. Über den hinterlegten Fragenkatalog kann in der praktischen Anwendung
der FM-Berater mit seinem Kunden ein Interview führen und innerhalb von diesem gemeinsamen Termin die Reifegradbestimmung mittels des Bewertungstools abschließen. Das Tool berechnet dann automatisch den Reifegrad je Dimension und gibt den übergreifenden Reifegrad an. Sofern innerhalb einer Dimension große Differenzen bzw. Sprünge hinsichtlich der ausgewählten Ausprägungen vorhanden sind, kennzeichnet das Tool diese entsprechend farbig. In der Zusammenfassung werden die erreichten Reifegradstufen grafisch zusammengestellt und textlich beschrieben. Zusätzlich werden erste Handlungsmaßnahmen zur Steigerung des Reifegrads vorgeschlagen. Durch
das Tool lässt sich der Prozess zur Reifegradbestimmung möglichst einfach, effizient und automatisiert umsetzen.
Fazit
Trotz der für die FM-Branche bekannten Vorzüge digitaler Systeme wird durch diverse Studien (z.B. von ZIA, EY oder KPMG) deutlich, dass die Branche erst am Anfang der digitalen Transformation steht. Grund dafür können fehlende Kenntnisse, Ressourcen bzw. Budgets der FM-Unternehmen für die Implementierung digitaler Technologien sein. Andererseits weisen einige innovative Lösungen Sicherheitslücken auf oder es werden zur Implementierung betriebliche System- und Datenstandards benötigt, die in den FM-Organisationen nicht vorliegen.2 Insbesondere die derzeitige Corona-Pandemie verdeutlicht die bestehenden Digitalisierungslücken. Durch die Pandemie wurden viele Organisationen zur Auseinandersetzung mit ihrem digitalen Reifegrad gezwungen: Wer kann wann und in welchem Umfang auf die betriebsrelevanten Informationen aus dem Homeoffice zugreifen? Außerdem wurde die IT-Infrastruktur der jeweiligen Organisation und die technische Ausstattung der Beschäftigten einer Härteprobe unterzogen. Unabhängig von solchen Ausnahmesituationen ist es wichtig gerade Organisationen mit einer geringen digitalen Reife einen strukturierten Rahmen vorzugeben, um sich (erstmals) mit der Digitalisierung ihrer FM-Prozesse auseinander setzen zu können. Dieser dient ihnen als Hilfestellung, um ihre Stärken, Schwächen und Potenziale zu erkennen und sich dadurch weiter zu entwickeln. Die Ermittlung des Status quo bildet dabei das Fundament zum digitalen Wachstum. Hierzu können das beschriebene Bewertungstool und Reifegradmodell einen ersten möglichen Ansatz darstellen.
Quellen:
[1] Araszkiewicz, K. (2017), “Digital Technologies in Facility Management – The state of Practice and Research Challenges”, Procedia Engineering, Jg. 196, S. 1034-1042.
[2] Pinder, J. & Ellison, I. (2018), “Embracing Technology to Move FM Forward”, British Institute of Facilities Management und 3edges, Hertfordshire, Mai.